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Alfred Lorenzer Institut

 

Zur Methode der Konversionsanalyse

 

Nach unserer Auffassung liefern die Neuen Formate weniger Information als Modelle der Selbstdarstellung. Sie tun das durch Personalisierung und Dramatisierung von ethischen Fragen und von Verhaltensmustern. Diese Technik, Sachthemen zu personifi­zieren und für den Alltag zu konkretisieren, hat durchaus histori­sche Vorbilder. Wir sehen das Innovative im Angebot der Neuen Formate in der Aufhebung der strikten Grenze von DarstellerInnen und Publikum. Die Regie kann nicht mehr allein die Bühne bestimmen. Es besteht der Anspruch, dass nicht „über etwas“ gesprochen wird, sondern dass jenes „etwas“ selbst auftritt. Das impliziert eine Öffnung, die positive Möglichkeit einer Vervielfältigung der Stimmen, die zu Wort kommen.

Dem stehen gegenläufige Strukturen entgegen. Das sind: 1. das Erregungs- und Unterhaltungsgebot. 2. die Macht der Moderation oder der Regie, die Zusammenschnitte herstellt. 3. das Setting, das meist ein anwesendes Publikum einbindet, das als Meute oder Chor funktioniert und dessen Reaktionen von der Regie vorgege­ben werden. 4. Die Organisation des Feldes durch die Mehrfach­vermarktung und die Manipulation der KonsumentInnen.

Trotz dieser Einschränkungen: Wir verstehen die Neuen Formate als kulturelles Angebot für die öffentliche Verständigung über proble­matische oder konfliktträchtige Fragen von allgemeinem Interesse. Dabei ist besonders relevant, dass verschiedene Sichtweisen - zum Bei­spiel die unterschiedlichen Perspektiven von Betroffenen und Ex­perten - zu Wort kommen und zugleich durch die Moderation in ein bestimmtes Ritual des Umgangs miteinander eingebunden werden. Die Moderation strukturiert die Situation durch die Fra­gen, die aufgeworfen werden, durch die Zuteilung des Rederechts und durch die Kommentare (das letzte Wort). Trotz der Macht der Moderation ist die Möglichkeit gegeben, dass Betroffene sich in un­erwarteter Weise äußern.

Die Neuen Formate schaffen also einen Rahmen, in dem etwas zur Sprache gebracht werden kann, das sonst nur gefiltert über Be­richte bekannt wird. Von Interesse ist immer, was die Betreffenden selbst zu ihrer Situation sagen. Aus der Sicht der Zuschauenden wer­den etwa in der Affekt-Talkshow Zusammenhänge, die sonst ab­strakt bekannt sind, wie in einem Theaterstück personifiziert. Die Zuschauenden können zu teilnehmenden Beobachtern werden. Es ist aber nicht nur das Sehen von Personen aus fremden Milieus be­deutsam, sondern auch die Konfrontation: Es können über das Ar­rangement der Sendung Begegnungen hergestellt werden, die nor­malerweise im Alltag nicht stattfinden - wie zum Beispiel die Be­gegnung von Opfern und Tätern. Außerdem ist das Spektrum der Themen von Belang. Es kommen immer Themen vor, über die sonst nicht gesprochen wird (wie z.B. sexuelle Abweichungen, etc.). Das Spektrum der Themen enthält unterschiedliche Facetten, darunter das Spiel mit den Tabus.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Öffentlichkeit wird in den Neuen Formaten auf verschiedenen Ebenen hergestellt:

·        Betroffene selbst können sich äußern. Soziologisch gesehen geht es um die Aufhebung von Marginalisierung. (Es wird nicht nur über Personen oder soziale Gruppen ge­sprochen, sondern sie sprechen über sich.)

·        Themen, die gesellschaftlich tabuiert sind, werden ange­sprochen. Das heißt, gesellschaftlich unsichtbar Ge­machtes wird zum Gegenstand der Debatte (Aufhebung von Tabuierung).

Kurze Anmerkung: Mit diesen Feststellungen ist nichts über die Intention der Macher/Innen gesagt. Deren Interesse richtet sich primär auf den Erfolg, der sich in der Einschaltquote niederschlägt. Sie müssen dem Gesetz des Marktes folgen, das Interessante fin­den, ihr Publikum faszinieren. Ihr subjektives Interesse richtet sich nicht auf die Herstellung von Öffentlichkeit, aber sie produzieren sie.

Werden die Neuen Formate als eine Form von Öffentlichkeit be­trachtet, so ergeben sich einige Kriterien zur Beurteilung der Quali­tät:

·          Wie weit erhalten Betroffene oder Mitspieler und Mitspiele­rinnen die Möglichkeit, sich zu artikulieren und mit den anderen Teilnehmer/Innen in einen Prozess der (Selbst)­Verständigung einzutreten?

·          Werden tabuierte Themen zur Sprache gebracht und einer Auseinandersetzung zugänglich?

·          Führt die Konfrontation von Positionen zur Verdeutlichung der Vielfalt von Lebensweisen und Perspektiven?

Diese Fragen lassen sich in der Medienanalyse auf einer ersten Ebene anhand der behandelten Themen und des Sendeschemas klären. Es ist klar, dass die Botschaften der Medien sich nicht ein­fach über den Aspekt der Information zureichend beschreiben las­sen. Jede Information ist in eine Rhetorik eingebunden. Sie hat also immer eine ästhetische Gestalt, die selbst, unabhängig von der transportierten Botschaft, einen Appell (die Aufforderung, eine be­stimmte innere Haltung einzunehmen) impliziert. Die Rhetorik ist also mitzureflektieren. Unsere Analyse des Fernsehangebots richtet sich in der inhaltsanalytischen Betrachtung auf die Angebote in ih­rer Text- und Bildstruktur.

Die Konversionsanalyse – ein tiefenhermeneutisches Verfahren

Wie lässt sich das inhaltliche Angebot bestimmen? Was wird im Zuschauer ausgelöst? Um diesen Fragen nachzugehen haben wir ein eigenes Verfahren entwickelt. Wir nennen unsere Untersu­chungsmethode Konversionsanalyse. [1]

Das Verfahren der Konversionsanalyse gehört zu den Methoden der teilnehmenden Beobachtung und der Gruppendiskussionsver­fahren, unter Einbeziehung unbewusster Anteile, die in der tiefen­hermeneutischen Kulturanalyse und in der Ethnopsychoanalyse entwickelt worden sind. [2] Modelle für unsere Arbeit lieferten insbe­sondere die Gruppenexperimente und Gruppenanalysen von U. Leithäuser und B. Vollmerg. Die Analyse latenter Themen bedient sich des szenischen Verstehens im Anschluss an die kulturanalyti­sche Methode von Alfred Lorenzer. [3] In der Frage der Bestimmung relevanter Dimensionen beziehen wir uns auf Erving Goffmann mit seiner Analyse von Interaktionsritualen und Rahmungen. Den Hintergrund für die Auswertung bildet die Lebensstilforschung zum Thema Alltagsästhetik und politische Kultur in bezug auf die sozialen Milieus in der Bundesrepublik Deutschland. [4]

Im Rahmen der aktuellen Medienforschung ist der Bedarf, den affektiven Aspekt der Medienwirkung zu bestimmen, neuerlich be­sonders akzentuiert worden. [5] Das gilt insbesondere für die Frage der Gewaltdarstellung, aber auch für Analysen des Massenphäno­mens „Talkshow“. [6] Die dort vorgelegten Ergebnisse werden aller­dings nicht auf die themenbezogenen Ambivalenzen bei den Zu­schauern zurückgeführt, sondern sie sind sehr stark von den kon­kreten Sinnzusammenhängen abgelöst.

Das Verfahren der Gruppendiskussion gibt dagegen Einblicke in Ambivalenzen und Dynamiken, die an konkrete Themen gebun­den sind. Außerdem ermöglicht die Gruppendiskussion über die freie Assoziation und über Wahrnehmungsprotokolle einen Ein­blick in latente Phantasien. Insofern stellt unser Verfahren eine Me­thode dar, die es ermöglicht, in exemplarischer Weise bewusste und unbewusste Muster in der Rezeption und im Umgang mit dem Angebot zu verdeutlichen. [7]

Ich möchte das Thema der Spannung zwischen manifestem und latentem Sinn und das Entstehen paradoxer Botschaften kurz an einem Beispiel verdeutlichen.

Das Latente ist im Angebot wirkungsmächtig, wird aber nicht in Worte gefasst oder angemessen thematisiert. Das bedeutet zugleich: Es entsteht eine Spannung zwischen der bildhaften, sinn­lich unmittelbaren Präsentation und der sprachlichen Benennung durch die Beteiligten (das Manifeste). Das betrifft zum Beispiel die Fixierung der Moderation darauf, dass der Gast „Gerd“ in einer Talkshow zum Thema Cellulite [8] ein medizinisches Problem reprä­sentierte - und daher ohne weiteres nackt unter angezogenen Men­schen gezeigt werden konnte. Der Fast-Nackte unter Angezogenen, zudem in der passiven Rolle eines Demonstrationsobjekts, wirkt peinlich. Die Situation ist für den betroffenen Gast beschämend. Die Lücke ergibt sich hier daraus, dass die Bedeutung der Nackt­heit im Kontext der Inszenierung eine völlig andere Bedeutung an­nimmt, als die Moderation behauptet. Als Teil der Szene steht Gerd manifest für Gesundheitsprogramme, latent für Männlichkeit, Kraft, Macht - in diesem Fall negativ, als Verlierer. Dieser Aspekt wird inszeniert und wahrgenommen - und zugleich in der Rede auf der Bühne verleugnet. Der Lustgewinn der Zuschauenden ist mit solchen Doppelstrukturen verknüpft. Die latente Botschaft lautet: Ein Körper wird zur Schau gestellt, taxiert und abgewertet. Die manifeste Botschaft dagegen lautet: Ge­sundheitsberatung. Wie wir sehen werden, treten solche Span­nungsfelder in der Gruppendiskussion als besonders diskussions­bedürftige Sequenzen hervor. Das Latente - behaupten wir - ist af­fektiv relevant und es gibt ein eigenes Narrativ des Latenten, das sich aus bruchstückhafter Wahrnehmung im Sehen zusammen­setzt; eine Wahrnehmung, die zur Ebene des Intentionalen in der Sendung in Spannung steht. Die sogenannte Grenzüberschreitung der Talkshows ist nur die Spitze des Eisbergs einer permanenten Spannung zwischen tabuierten, latenten Inszenierungen mit ihrem Eigen-Sinn und dem „offiziellen Sinn“, dem Manifesten.

Die Spannung zwischen Latentem und Manifestem provoziert beim Zuschauen Bearbeitungsimpulse, die wiederum gegliedert wer­den können: Entweder es geht um die Abwehr der provozierten in­neren Bilder oder es gelingt - zum Beispiel in der Gruppendiskus­sion - eine Annäherung an das Tabuierte, das heißt eine angemes­sene Beschreibung des Erlebens und ein angemessener Umgang mit diesem. [9]

Die paradoxe Botschaft im hier zitierten Beispiel entsteht aus der Struktur der Erniedrigung und Beschämung eines Hässlichen auf der latenten Ebene, während manifest ein medizinischer Diskurs läuft, der seinerseits noch in den übergreifenden Diskurs eingebet­tet ist, den man überschreiben könnte: Es gibt nichts Hässliches, es gibt nur Verschiedenes, verbunden mit dem Appell an jeden ein­zelnen Seher: Steh zu Dir, wie Du bist! Die männlichen Jugendli­chen, denen wir die Sendung zeigten ergingen sich über „den Nackten mit der Speckwampe“ in Tiraden der Abgrenzung und des Abscheus, während die Mädchen mit knapper vernichtender Verachtung reagierten. Die Angst, selbst hässlich zu sein und be­schämt zu werden, war greifbar und wurde in Abspaltungen und aggressiven Projektionen ausgedrückt.

Das Analysieren dieses Vorgangs, das szenische Verstehen, impliziert also im Sinne Lorenzers eine Veränderung des Rezipien­ten im Prozess der Deutung des Seherlebnisses. Zugleich sehen wir die Deutung des Latenten als Aussage über das Angebot an.

 Diese Deutung ist nicht als „Gruppenprojektion“ aufzufassen. Jede Erarbeitung eines latenten Sinnes muss sich am Gegenstand bewähren, das heißt, sie muss begründet und nachvollziehbar sein. Wie steht es um die Intersubjektivität? Andere Gruppen können in ihrer Deutung andere Dimensionen hervorheben. Das szenische Verstehen ist nicht intersubjektiv im Bezug auf die Bestimmung der relevanten Dimensionen, wohl aber hinsichtlich der Auslegung am Material.

Selbstverständlich ist uns bewusst, dass die Rezeptionssituation in von uns organisierten oder begleiteten Publikumsgruppen nicht mit den durchschnittlichen Sehsituationen übereinstimmt. Wir sind nach verschiedenen Vergleichsversuchen aber zu dem Ergebnis ge­kommen, dass es keine unendliche Variation in der Reaktion auf die vorgegebenen Angebote gibt. Dies wird ja auch dadurch belegt, dass große Gruppen von regelmäßigen SeherInnen gezielt ange­sprochen und an spezielle Produkte gebunden werden können. In den Gruppensituationen erscheinen nicht grundsätzlich andere Themen als im Einzelgespräch. Wir ergänzen die Gruppendiskus­sion durch das „Wahrnehmungsprotokoll“, das idealerweise das Seherleben ungefähr abbildet.

Die Technik der Konversionsanalyse

Wie gehen wir bei der Konversionsanalyse vor?

Die Konversionsanalyse ist ein dreistufiges Verfahren, das Inhalts­analyse und Gruppendiskussion kombiniert. Teil 1 und Teil 2 fin­den in der Forschungsgruppe statt, in Teil 3 arbeiten wir mit Publi­kumsgruppen. Wir schildern hier kurz den Ablauf unserer Arbeits­schritte.

A. Inhaltsanalyse in der Forschungsgruppe

Teil 1: Im ersten Schritt, in der formalen Inhaltsanalyse, werden die Sendungen in der Forschungsgruppe im Bezug auf Themenblö­cke chronologisch beschrieben. Es wird dann für jeden Themen­block die spezielle Thematik und das affektive Klima der einzelnen Sequenz beschrieben. (Für uns ist das Genre ein Schlüsselbegriff, da es nicht nur um Information, sondern auch um die Rhetorik und damit um den intendierten Appellcharakter der Angebote geht. [10] (Teil 1 wird häufig parallel oder im Anschluss an Teil 2 fertig ge­stellt.)

Teil 2: Der Zugang zur affektiven Wirkung und zu unbewussten Anteilen der Rezeption erfolgt methodisch über das Gruppendis­kussionsverfahren. Wir verwenden dieses Verfahren sowohl für die Bestimmung der Inhalts- und Wirkungsanalyse in der For­schungsgruppe als auch in der Arbeit mit den Publikumsgruppen. Dabei fassen wir Wirkung auf als die vom vorgegebenen Angebot ausgelösten Assoziationen bzw. affektiven Reaktionen, die in der Gruppe einen Impuls zur Verständigung über das Gesehene auslö­sen.

Was sind die Regeln der Gruppendiskussion? Erstens: Gemein­sames Anschauen der Sendung und Anfertigen eines Wahrneh­mungs- und Assoziationsprotokolls während des Sehens. Wir be­zeichnen die Selbstbeobachtung im Sehvorgang als „naives Sehen“, da es uns nicht darum geht, distanzierte Urteile oder kritische Re­flexionen zu erfassen; im Gegenteil geht es um die spontanen Reak­tionen und Assoziationen. Gruppenkommunikation ist in dieser Phase untersagt. Nach der Herstellung der Einzelprotokolle erfolgt das Vorstellen der Assoziations- und Wahrnehmungsprotokolle in der Gruppe. Dabei geht es nicht um Wertungen, sondern um die vertiefende Erörterung der Seherfahrung. Besonders intensive Wahrnehmungen und Affekte der Teilnehmenden werden in der Gruppendiskussion erläutert. Dabei kristallisieren sich unter­schiedliche Wahrnehmungen und Assoziationen heraus. Es geht um die Beschreibungen von Wahrnehmungen und um die Ver­deutlichung am Material (Wiederholtes Einspielen von Szenen der Sendung zur Verdeutlichung).

Der nächste Schritt der Gruppenarbeit in der Forschungsgruppe ist die Feststellung von Haupt-Themen und von unterschiedlichen Assoziationsfeldern. Die abschließende Deutungsarbeit in der For­schungsgruppe bestimmt Themenkomplexe, manifeste Botschaf­ten so wie Affekte und Assoziationen.

Intendierte Themen und manifeste Botschaften bilden die Ebene 1. Sie werden zu den ausgelösten Affekten, den affektiv relevanten Themen und den im Publikum angeregten Phantasien und Assozi­ationen – der Ebene 2 - in Beziehung gesetzt. Kommt es zwischen den beiden Ebenen kontinuierlich zu Differenzen, sprechen wir von der Spannung zwischen dem manifesten und latenten Sinn. Solche Differenzen produzieren paradoxe Botschaften, die eine produktive Aneignung des intendierten Sinns erschweren. Die ent­stehenden Paradoxien sind wiederkehrende Muster. Sie sind nicht zufällig zustande gekommen, sondern befinden sich typischer­weise genau an den Schnittstellen zwischen den zentralen Postula­ten einer postkonventionellen Moral und der konventionellen bzw. regressiven Wertorientierung.

Die Deutung der Spannung von manifestem und latentem Sinn bezieht sich auf das psychoanalytische Konzept des Unbewussten bzw. der Abwehrmechanismen. Die Neuen Formate produzieren z.B. einen spezifischen Umgang mit der Spannung von manifestem und latentem Sinn. Diesen gilt es als Strukturmuster zu beschrei­ben. Dabei kommt es darauf an, Unterschiede zwischen einzelnen Sendetypen aufzuzeigen, Techniken wie Moderation und Setting kritisch zu hinterfragen und über Verbesserungen nachzudenken.

Das Resultat der Arbeitsschritte 1 und 2 besteht in einem inhalts­analytischen Tableau des Angebots, das aus der Gruppendiskus­sion in der Forschungsgruppe hervorgegangen ist.

B. Wirkungsanalyse mit Publikumsgruppen

Teil 3: Es ist wichtig, dass die Publikumsgruppen nach dem gleichen Verfahren der Gruppendiskussion arbeiten. Die Leitung der Gruppendiskussion ist nondirektiv. Auch in der Publikums­gruppe wird ein Wahrnehmungsprotokoll angefertigt. Es folgen auch hier die Stufen der Wahrnehmungsbeschreibung und die Be­nennung der Affekte und der Assoziationen in der Gruppendis­kussion. Die Diskussion wird aufgezeichnet und ausgewertet.

C. Systematisierung der Ergebnisse

Teil 4: Hier geht es um die Auswertung des Materials: Die Be­schreibung und die Diskussion des Gesehenen in der Publikums­gruppe wird zu den Ergebnissen der Forschungsgruppe in Bezie­hung gesetzt. Wichtige Aspekte ergeben sich aus den angespro­che­nen Themen und Assoziationen, die in der Diskussion zur Sprache kamen, oder die gerade nicht angesprochen wurden. So interessiert im Fortgang der Untersuchung besonders, ob bei verschiedenen Publikumsgruppen und innerhalb einzelner Publikumsgruppen erhebliche Unterschiede im Vergleich zu den Ergebnissen der For­schungsgruppe auftreten. Weiter richtet sich unser Interesse dar­auf, wie Publikumsgruppen sich mit dem Seherlebnis auseinander­setzen. Die Auseinandersetzung gilt als Indikator für Ressourcen der Verarbeitung des Gesehenen. Von besonderer Bedeutung ist für die Auswertung zu klären, wie die paradoxen Botschaften ver­arbeitet werden.

Was leistet die Konversionsanalyse?

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Vorlauf in der For­schungsgruppe stellt eine notwendige Selbstreflexion dar. Die For­schungsgruppe bildet mit ihren Ergebnissen die Folie des Kontrasts oder der Übereinstimmung mit den Ergebnissen in den Publi­kumsgruppen. [11] Das Ziel der Konversionsanalyse richtet sich auf die Beschreibung des Angebots und auf den Umgang mit dem An­gebot. Was ist der Maßstab für eine gelungene Deutung? Die Er­gebnisse sollten in einem imaginären oder realen Dialog mit den Diskussionsgruppen aus dem Publikum ein weiterführendes An­gebot sein. Die Deutung sollte nicht unbedingt einfach Zustim­mung finden, aber geeignet sein, von den Beteiligten aufgegriffen und kritisch weiterentwickelt zu werden. Das Ziel ist keine Dia­gnostik, sondern ein öffentlicher Diskurs. [12] Die von uns in der In­haltsanalyse erarbeiteten Spannungen zwischen dem manifesten und dem latenten Sinn (die Paradoxe) lassen sich vielfach als Irrita­tionen in den Publikumsdiskussionen nachweisen. Es geht uns um die Verdeutlichung von Angebot, Rezeptionspraxis und Ressour­cen. Die dynamische Bewegung in der Phantasietätigkeit der Zu­schauer steht im Zentrum des Interesses. Das forschende Subjekt ist selbst Teil dieser Auseinandersetzung und kann sich nicht auf die Position des fremden Außenbeobachters zu­rückziehen. [13]

In unserem Ansatz wird der Zusammenhang von Angebot und Rezeption betont, der in letzter Zeit zu stark ignoriert wird. Der ur­sprünglich kritische Ansatz der cultural studies ist inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verwässert. [14] Unter dem Vorwand, sich dem Verstehen der Rezipienten zu öffnen, hat sich das Lob des media­len Schwachsinns eingeschlichen. Diese Anpassung der Wissen­schaft an die massenkulturellen Angebote begann mit der Beto­nung der Eigenständigkeit der Rezeption. Inzwischen hat sich diese Idee zum Fetisch entwickelt. Merke: Jede/r kann alles gegen den Strich bürsten und eigenwillige Lesarten produzieren – aber wenige tun es. Erklärbare Ausnahmen, Sonderfälle werden zum Regelfall stilisiert. Notwendige Kritik am Angebot unterbleibt. [15]

Ich fasse zusammen: Das Ergebnis der tiefenhermeneutischen Inhaltsanalyse und der Auswertung der Publikumsdiskussionen ist die Beschreibung von thematischen Kreisen im Angebot und die Herausarbeitung von Strategien der Affektmodulierung, die im Angebot präsentiert werden, so wie die Darstellung des Umgangs mit dem Angebot und der Verarbeitung des Angebots bei den Re­zipientInnen.

 Dabei kommt dem Gegensatz von manifestem und latentem Sinn eine besondere Bedeutung zu. Nach den bereits vorliegenden tiefenhermeneutischen Untersuchungen wird die Rezeption stark durch Paradoxien im Angebot beeinflusst, durch schroffe Gegen­sätze zwischen Manifestem und Latentem etwa zwischen moder­nen, liberalen bis individualistischen Botschaften und latenten tra­ditionellen, autoritären und normierenden Botschaften. Dabei ist die affektive Erregung vor allem an das Latente gebunden, das manifest geleugnet wird. Durch die Spaltung zwischen Manifestem und Latentem wird den Rezipienten eine regressive Verarbeitung des Gesehenen nahegelegt. Anders als es die rezeptionsästheti­schen Ansätze behaupten, lässt sich zeigen: Unabhängig vom Kon­text der Rezeption werden im Angebot Nutzungsmöglichkeiten vorentworfen. Dies genauer zu untersuchen, ist die Aufgabe der empirischen Rezeptionsforschung. Mit der tiefenhermeneutischen Auswertung von verschiedenen qualitativen Dokumenten wie dem Wahrnehmungsprotokoll, dem offenen narrativen Interview und dem Gruppenexperiment stehen dafür geeignete Techniken zur Verfügung. Mit dem Verfahren der tiefenhermeneutischen Kultur­analyse ist ein Instrument gegeben, die Redundanz des Manipula­tionsansatzes zu überwinden. Es kann empirisch gezeigt werden, dass die Nutzung zwischen produktiver Aneignung und regressi­ver Fragmentierung verläuft. An diesem Widerspruch muss jede pädagogische Förderung von „Medienkompetenz “ ansetzen.


[1] Bei dem Begriff beziehen wir uns auf den psychoanalytischen Terminus der Konversion eines sozialen Konflikts in eine Körperinszenierung (Vgl. J. Laplanche,J. B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt 1972, Stichwort: Konversion). Freud hat die Körperinszenierung (das psycho­somati­sche Symptom) als Darstellung einer verdrängten Szene entschlüsselt. Die Darstellung des Konflikts im Symptom ist dem Betroffenen wie der Mitwelt unverständlich, da der Schlüssel des Verstehens fehlt: die Verbindungen der aktuellen Symptomszene zu der „Ur-Szene“ verläuft über assoziative Ver­knüpfungen. Außerdem werden im Symptom der verbotene Wunsch und das Verbot gleichzeitig dargestellt. Analog können kulturelle öffentliche Inszenie­rungen als Unkenntlich-Machen von Konflikten gedeutet werden, wobei eben­falls Wunsch und Verbot in unverständlicher Form zum Ausdruck gebracht werden. Zum Begriff Konversion vgl. Zum Verstehen und Deuten kulturell desymbolisierter Wünsche vgl. Alfred Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt 1981.

[2] Maya Nadig, Ethnopsychoanalyse, Frankfurt 1992, U. Leithäuser/ B. Voll­merg, Empirie des Alltagsbewußtseins 1997.

[3] Alfred Lorenzer, Tiefenhermeneutische Kulturanalyse, in: Hans-Dieter König et al., Kultur-Analysen, Frankfurt 1988, S. 11-99 und Alfred Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik, Frankfurt 1981.

[4] B. Flaig, Th. Meyer, J. Ueltzhöffer, Alltagsästhetik und Politische Kultur, Bonn 1993.

[5] Oliver Grau, Andreas Keil, Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound, Frankfurt 2005.

[6] Insbesondere Dieter Prokop, Der Medien-Kapitalismus, Hamburg 2000, S. 255ff., Friedrich Krotz zu „Emotionale Aspekte der Fernsehnutzung. Konzep­tionelle Überlegungen zu einem vernachlässigten Thema“ (1993), Lothar Mi­kos:Gary Bente, Bettina Fromm: Affektfernsehen: Motive, Angebotsweisen und Wirkungen (1997). Fernsehen im Erleben der Zuschauer (1994),

[7] Oliver Grau, Andreas Keil, Mediale Emotionen. Zur Lenkung von Gefühlen durch Bild und Sound, Frankfurt 2005.

[8] Arabella, Hilfe meine Freundin hat Cellulite (Sendung vom 30.10.1998).

[9] Vgl. die Darstellung bei Lorenzer, der den Unterschied als Symbol, Klischee und Zeichen beschreibt in: Alfred Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekon­struktion, Frankfurt 1975.

[10] Wir beziehen uns in der Inhaltsanalyse systematisch auf die folgenden As­pekte: 1. Das Thema, das verhandelt wird. 2. Das Genre, also das affektive Klima der einzelnen Themenblöcke. 3. Es wird weiter überprüft, wie die Gäste in ihren Äußerungen durch die Intervention der Moderation oder durch an­dere Techniken (Einsatz von Zeiteinteilung, Laufbänder, Unterbrechungen, etc.) auf die Einhaltung der Grenzen des Genres festgelegt werden. 4. Beson­dere Aufmerksamkeit gilt dem Setting und der Kameraführung. Welche As­pekte werden visuell besonders hervorgehoben? Wie wird rhythmisiert? 5. Besondere Bedeutung kommt der inszenierten Öffentlichkeit zu. Das reicht vom Setting - wie zum Beispiel der Arena-Form der Sitzanordnung des Publi­kums - bis zum Einsatz des Beifalls, von der Kameraführung und der Montage bis zur Auswahl der „geeigneten Gesichter“ für die Großaufnahmen.

[11]   Vgl. Ulrike Prokop, Anna Stach et al. Arabella Elemente einer Wirkungs­analyse, in: Lahme-Gronostaj/Leuzinger-Bohleber, Marianne (Hg.): Identität und Differenz. Wiesbaden 2000, S. 51-86.

[12] Diese Intention hat in medienpädagogischer Perspektive insbesondere Die­ter Baacke entwickelt, Vgl. Dieter Baacke,Dieter Lenzen(Hg.), Erziehungswissenschaft, Reinbek 1994, S.314-339.

[Jürgen Ritsert, Einführung in die Logik 13] Zum Subjekt im Forschungsprozess, der Sozialwissenschaften, Münster 2003.

[14] Man vergleiche etwa die frühen Arbeiten von Richard Hoggart, The Uses of Literacy, London 1957 oder Lee Rainwarter et.al. ,Workingsman’s wife. Her Personality,Work and Life Style, New York 1959.

[15] Ein neueres abschreckendes Beispiel für diese Deformation liefert Andreas Dörner, Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Frankfurt 2001.