Seit
1996 besteht am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität
Marburg der Forschungsschwerpunkt „Tiefenhermeneutische Medienanalyse“.
Im
Zentrum der Forschungsarbeit stand zunächst die Analyse von populären Affekt-Talkshows
wie „Schreinemakers Live“, "Harald Schmidt Show" und "Arabella". Das Forschungsfeld hat sich nunmehr auf alle massenwirksamen Formate ausgeweitet. In universitären Lehrveranstaltungen werden unser wirkungsanalytisches Verfahren, das Naive Sehen, sowie die
Konversionsanalyse erprobt und die Ergebnisse für weitere Analysen genutzt.
Diese Untersuchungen wurden durch Forschungsmittel
und Lehraufträge der Philipps-Universität ermöglicht. Hinzu kam die
Unterstützung durch das Zentrum für Gender Studies und feministische
Zukunftsforschung sowie durch die Hessische Landeszentrale für politische
Bildung. Zahlreiche
Publikationen, Diplomarbeiten und Dissertationen sind aus diesem Arbeitszusammenhang
hervorgegangen.
Forschungsprogramm der AG Tiefenhermeneutische
Medienanalyse (Marburg)
Unter dem Stichwort: „Neue Sozialisationsagenturen“
untersuchen wir Medien- und Freizeitangebote,
die im folgenden kurz als Neue Formate bezeichnet werden.
Zu
den Neuen Formaten zählen Affekt-Talkshows, Reality-TV, sowie auch Soap Operas. Es lassen sich ebenso die selbstorganisierten Fantasy-Rollenspiele dazu zählen. Die
Adressaten sind in allen Altersklassen zu finden und gehören zumeist zu bildungsferneren oder mittleren Milieus.
Vor allem die Privatsender verbinden mit ihren Sendeangeboten effiziente Fernsehwerbung. Werbung und Spielformate
harmonieren. Die Bilder vom richtigen Leben, vom richtigen Körper und die
Muster der angemessenen Selbstdarstellung sind in der Werbung wie in den Neuen
Formaten auf die jeweiligen Adressaten zugeschnitten. Die Neuen Formate liefern den Zuschauern Modelle erfolgreicher
Selbstdarstellung, die kopiert werden, von denen sie sich aber auch
vehement abgrenzen können. Beides trägt zur bewussten Selbstinszenierung vor allem Jugendlicher
bei.
Was
verändert sich im Angebot der Neuen Formate? Als erstes ist die Öffnung der
Bühne für das Publikum zu nennen. Laien werden zu Darstellern, professionelle
Darsteller werden zu Mitspielern. Professionelles Können und Hierarchie werden
gleichermaßen abgebaut. Alltags- und Intimsituationen werden öffentlich ausgebreitet. Das Thema der Authentizität und der permanente Zweifel an der Aufrichtigkeit
der Auftretenden und der Glaubwürdigkeit der ModeratorInnen bzw. Professionellen werden zum Dauerthema
der Rezeption.
Das
Interessante an den Neuen Formaten sind also neue Spielformen und inhaltlich
die Experimente mit der Körperdarstellung sowie das Bemühen um Konsensbildung
in ethischen Fragen.
Die
ethischen Fragen beziehen sich auf die Legitimität neuer Lebensformen (z.B.
wurden Singles früher als alte Jungfern definiert; Mütter als Hausfrauen galten
bis in die 70er Jahre als Ideal, heute werden sie als Versagerinnen
abgestempelt; Sex im Alter gilt heute als verpflichtend, die Erwartungen an
Liebe und Elternschaft werden zwischen Frauen und Männern neu verhandelt,
etc.).
Die
kulturelle Erfindung wirkungsvoller Selbstdarstellungen und neuer
Lebensentwürfe bedarf immer einer kulturellen Szene und ihrer Öffentlichkeit.
Hier wird das Neue vorgeführt und ausprobiert, nachgeahmt oder verworfen. Das
Fernsehen liefert eine wichtige Plattform für die Darstellung der Trendsetter. Es sorgt zugleich für die massenhafte Verbreitung der neuen Trends.
Dabei spielen die Neuen Formate eine entscheidende Rolle.
Die
Veränderung der Lebenspraxis und der Lebensentwürfe in der Gegenwart haben eine
zunehmende Ästhetisierung der Selbstdarstellung mit sich gebracht.
Körperpräsentation, Lebensstil und Weltauffassung bilden ein Ganzes, den
Habitus. Die Selbststilisierung wird besonders bei den jungen, konsumfreudigen
und gut qualifizierten Frauen und Männern zur Selbstvergewisserung. Dabei
steht die optische Inszenierung im Zentrum. Die Darstellung als
weiblich/männlich ist von besonderer Bedeutung. Das „Äußere“ – Aussehen,
Selbstformierung, Selbstinszenierung – richtet sich nicht nur an „die anderen“.
Es ist Identitätsvergewisserung – also mehr als Anpassung an Fremd-Zwänge oder
als unverbindliches Spiel mit Rollen.